Wahl, C. (2023). 22 Bahnen. Köln: DuMont.
Zur Geschichte aus der Zusammenfassung auf der Website des Verlags:
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.
Nach ca. einem Drittel des Buches wollte ich nicht mehr weiter lesen. Es war mir alles zu schön, um wahr zu sein. Schon der Titel passt nicht. Die Betroffenen, die ich kennen gelernt habe und die sich mit Schwimmen emotional betäubt haben, sind 60 oder 80 Bahnen geschwommen. Wenn man jung und sportlich ist, reichen 22 Bahnen dafür nicht. Auch sind die Protagonisten der Geschichte zu intelligent, zu mutig und zu lebenserfahren. Tilda z.B. redet mit der Lebenserfahrung einer 70-Jährigen, Ida wirkt auf mich wie 35. Trotz der widrigen Umstände machen sie stets alles richtig und sagen das Richtige. Das ist mir zu glatt und es fehlt mir der Tiefgang, wie ihn andere Romane zum Thema haben.
Dann hat mich das Buch doch noch gefesselt. Warum? Tilda und Ina repräsentieren Resilienz. Sie sind Modelle dafür, wie man den widrigen Verhältnissen einer Suchtfamilie trotzen kann, was man sagen kann, wenn die suchtkranke Mutter lügt und manipuliert, und wie man sich trotz allem treu bleiben, Unabhängigkeit wahren und den eigenen Weg gehen kann. Und die Liebesgeschichte zwischen Tilda und Viktor ist eine Blaupause dafür, wie zwischenmenschliche Annäherung möglich sind, ohne die eigene Unabhängigkeit aufzugeben.
"22 Bahnen" ist ein eher leichtes, trotziges und heiteres Buch. Auch wenn die Erzählung ein wenig kitschig daherkommt, schafft es Caroline Wahl, eine tröstende Geschichte über die Unbilden des Daseins zu erzählen. Für mich als Psychotherapeut liegt der besondere Wert des Werkes in seinem ermutigenden Appell: "Trau Dich und mach - wie Tilda - dein Ding!" Deswegen habe ich es schon in der Therapie genutzt und es jüngeren Betroffenen empfohlen. Ich möchte mit einem Zitat aus dem Buch von S. 105 und 106 schließen, welches den Sinn narrativer Traumatherapie auf den Punkt bringt:
Die Gewissheit, dass ich vieles verlieren kann, einen Vater, eine Mutter, eine normale Kindheit, dass nichts sicher und beständig ist, dass aber Bücher trotz allem bleiben, dass mir niemand diese Geschichten, diese Welten wegnehmen kann, in die ich zu flüchten vermag, beruhigt mich und macht mich unverwundbar.
» 22 Bahnen auf Website DuMont
Stuart, D. (2021). Shuggie Bain. Berlin: Hanser.
Das englische Original ist 2020 bei Picador/London erschienen.
Shuggie Bain ist ein Roman über das Aufwachsen von drei Kindern mit einer alkoholkranken Mutter. Es ist gleichwohl das Portrait einer Alkoholikerin, eine Coming-of-Age-Geschichte ihres jüngsten Sohns Shuggie als auch eine Klassen- und Arbeiterstudie in den 80ern und Anfang der 90er in Glasgow auf dem gesellschaftlichen Hintergrund des Thatcherismus. Die klassische Industrie stirbt und Depression, Arbeitslosigkeit und Armut macht sich im Arbeitermilieu breit. Die Mutter Agnes verliert sich immer mehr in Tagträumen von einem besseren Leben und im Suff.
Der Vater Shug, Taxifahrer, verspricht ein besseres Leben, geht notorisch fremd und verlässt schließlich die Familie. Die Kinder kümmern sich erfolglos um die Mutter. Eins nach dem anderen sucht das Weite, um das eigene Leben zu retten. Shuggie hält als Jüngster und Lieblingssohn am längsten an der Hoffnung fest, die Mutter retten zu können. Doch er hat eigene Probleme als Heranwachsender, der von allen vermittelt bekommt, nicht normal zu sein, weil er als Junge Fußball nicht mag und lieber mit Puppen spielt.
Der junge Autor Douglas Stuart hat mit seinem Debütroman den renommierten Booker Prize gewonnen. Es ist in einer wunderbaren Mischung aus Gossen-Vokabular sowie bild- und symbolträchtigem Sprachstil formuliert, der die trostlosen sozialen, familiären und persönlichen Zusammenhänge hautnah erfahrbar macht und den Figuren gleichzeitig Stolz und Würde lässt. In der detailreichen Brutalität und Hässlichkeit der Schilderungen versteckt sich etwas respektvoll Sanftes und Menschliches. So realistisch abstoßend die Geschehnisse sind, ist man als Leser von den Schicksalsschlägen und der inneren Not der Protagonisten auch mitfühlend ergriffen. Es ist deswegen kein Buch, welches man in einem Rutsch lesen kann. Nach jedem Kapitel braucht es eine Pause, um Abstand zu nehmen, zu verarbeiten und einen neuen Zugang zum Weiterlesen zu finden.
Die Erfahrungen von Leek, Catherine und Shuggie in Stuarts Werk ähneln, trotz des anderen geschichtlichen Kontextes, verblüffend den Erzählungen meiner Klienten in der Therapie. Dieses intime Detailwissen ist nicht verwunderlich, weil der Autor im Roman autobiografische Erlebnisse mit seiner alkoholkranken Mutter verarbeitet. Das Buch ist nichts für Zartbesaitete. Auch Betroffenen, die ihr Trauma noch nicht bewältigt haben, kann ich es nicht empfehlen. Ansonsten ist das Buch eine kleine Kostbarkeit, weil es Einblicke in menschliche Abgründe bietet, welche kein Ratgeber oder Fachbuch liefern kann und ich bislang nur in dem Film "Ein Teil von uns" finden konnte.
» Buch und Autor
Ohde, D. (2020). Streulicht. Berlin: Suhrkamp.
Eine namenlose Ich-Erzählerin schildert ihre Kindheit und Jugend. Die Eltern sind türkische Einwanderer. Der Vater arbeitet, säuft - wie auch der Großvater - und ist kaufsüchtig, die Mutter opfert sich für andere auf und beide Eltern meiden misstrauisch und ängstlich jeglichen sozialen Kontakt. Lehrer und andere Erwachsene sehen das Kind nicht oder werten es ab. Auch andere Kinder lehnen das Kind als Ausländerin ab und die beiden einzigen Freunde, die es hat, sind zu sehr mit ihrem behüteten und normierten Leben beschäftigt, um es zu verstehen. Niemand wendet sich dem Kind zu oder traut ihm etwas zu. Es bleibt gesichtslos, ist stumm vor Angst und Scham, passt sich an, um nicht aufzufallen, und leidet still.
Als Psychologe könnte ich das Buch von Deniz Ohde analysieren und kategorisieren. Ich könnte etwas Kluges über komplexe Traumatisierung, Dissoziation und Selbstwertstörung schreiben. Doch genau gegen dieses Unrecht, etikettiert und in Schubladen gesteckt zu werden, verwehrt sich die Erzählerin zu Recht. Ihre Schilderungen geben einen ungeschminkten, abgrundtiefen Einblick in das Innenleben eines Menschen, der nicht gesehen und nicht gehört und dem kein Raum gegeben wird, selber herauszufinden, wer er ist, was er denkt und fühlt und wie er sich im Leben verwirklichen will. Die Texte sind ein befreiender Aufschrei und eine sich selbst entfaltende Anklage eines mundtot gemachten Menschen. Das Buch will nicht kommentiert werden, es will gehört werden.
» Zum Buch bei Suhrkamp
Zeh, J. (2018). Neujahr. München: Luchterhand.
Henning ist ein normaler Familienvater, eine Verkörperung von Anpassung und Durchschnitt. Doch innerlich gerät er immer mehr unter Druck, ohne zu verstehen, was mit ihm geschieht. Er leidet unter Panikattacken. Er versucht "das Tier", wie er die Angst nennt, abzuwehren, indem er sich kein Recht auf psychische Probleme zugesteht und die äußere Fassade zwanghaft aufrechterhält. Tatsächlich aber beherrscht ihn das Tier zunehmend. Als Folge beginnt Henning, sich von seiner Umwelt zu entfremden.
Seine Dissoziation spitzt sich immer weiter zu, bis er auf einem Familienurlaub über die Feiertage allein eine sportliche Radtour unternimmt. Früher, vor der Familiengründung, fuhr er Rennrad. Als er auf der Tour einen Berg bezwingt bzw. - angesichts seines untrainierten Zustands - der Berg ihn bezwingt, holen ihn die Erinnerungen an ein schreckliches Kindheitstrauma ein, welches sich in einem Ferienhaus auf diesem Berg zugetragen hat, als er vier Jahre alt war. Er findet das Haus und die verdrängten Geschehnisse von damals holen ihn ein.
Der Roman schildert schonungslos, wie ein erwachsener Mann von seinem kindlichen Suchttrauma eingeholt wird. Der Vater von Henning ist suchtkrank, trennt sich früh und kümmert sich nicht weiter um die Kinder. Die alleinerziehende Mutter agiert co-abhängig: Sie kehrt die Erinnerung an früher unter den Teppich, indem sie Dinge kleinredet, den Kindern Lügengeschichten erzählt und sich über den Vater der Kinder verbittert ausschweigt. Überdies opfert sie sich schuldhaft in der Versorgung und Erziehung der Kinder auf, ohne ein eigenes Leben zu haben. Sie funktioniert depressiv als leere Hülle.
Als typisches "Helferkind" ist Henning ein Abbild seiner Mutter. Er kümmert sich ebenso von Schuld motiviert um seine zwei Jahre jüngere Schwester, die ihr Leben auch jenseits der 30 nicht in den Griff bekommt, und er versucht sein Posttrauma durch Gefühlsunterdrückung in den Griff zu bekommen. Die Autorin Juli Zeh versteht sich meisterlich darin, die hinter perfekter, normierter Fassade versteckte Abgründigkeit der kleinbürgerlichen Spießigkeit zu sezieren, ohne sie zu werten.
Schottner, D. (2017). Dunkelblau: Wie ich meinen Vater an den Alkohol verlor. München: Piper.
Der Wert des Buches ist, dass der Protagonist eine in meinen Augen co-abhängige Erzähl-Perspektive einnimmt. Der Blick ist vor allem auf das Siechtum des Vaters ausgerichtet. Es war der Grund, warum ich das Buch nicht ausgelesen habe. Es war mir unerträglich, die Geschichte bis zum bitteren Ende zu lesen. Ich bin diese Trinker-Biografien nach zwei Jahrzehnten der Suchttherapie überdrüssig, sie ähneln sich alle. Und auch das co-abhängige Zuschauen ist ein erstarrtes Ritual in einer (scheinbar ausweglosen) Sackgasse.
Doch das darf ich wiederholen: Das Leiden des Sohnes findet vor allem in der sprachlosen Vermeidung des eigenen Erlebens, also zwischen den Zeilen statt. Ein Kollege, der Schottner auf einer Lesung erlebt hat und mit dem ich mich über das Buch ausgetauscht habe, äußerte, dass genau dies das Beeindruckende des Werkes sei.
» Verlagsseite
Sheff, D. (2008). Beautiful boy. A father´s journey through his son´s addiction. Boston: Houghton Mifflin.
David Sheff schildert autobiografisch seine Erfahrungen als Vater, der sich in der Hilfe für seinen drogenabhängigen Sohn immer weiter verliert. Zum Buch gibt es auch einen Film mit demselben Titel (2018), der in der Rubrik Spielfilme weiter unter rezensiert ist. Auf Wikipedia werden die Erfahrungen von Sheff als liebender und überversorgender Vater zusammenfassend wie folgt beschrieben (Stand: 01.04.2023):
Throughout the memoir Sheff attends numerous Al-Anon Meetings and therapy sessions. In these different sessions he is continually told of the three Cs: you did not cause it, you cannot control it, and you cannot cure it. Sheff has a difficult time accepting these statements throughout the memoir. At the end, however, he says that he has come to accept two of the Cs, that he cannot control it, and he cannot cure it. He realizes that he has done everything he can do to try to help Nic, and knows that it is up to Nic to figure things out if he is to fully recover.
» Wikipedia
Walls, J. (2005). Schloss aus Glas. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Zum biografischen Hintergrund von Film und Buch auf Wikipedia:
Der Film basiert auf dem autobiografischen Roman Schloss aus Glas (Originaltitel The Glass Castle: A Memoir) von Jeannette Walls aus dem Jahr 2005, ... Walls beschreibt in Schloss aus Glas ihre schwere Kindheit und wie ihre Eltern mit vier Kindern durch die USA vagabundierten. In den ersten fünf Jahren ihrer Ehe hatten ihre Eltern 27 Adressen, da ihr Vater es an keinem Arbeitsplatz länger aushielt und kein Geld für die Miete hatte. Zudem fühlte sich der alkoholkranke und wahrscheinlich bipolare Rex vom FBI verfolgt. Rose Mary, ihre Mutter, war wahrscheinlich auch bipolar und hielt sich für eine Künstlerin.
Die Kinder mussten oft hungern, in zerschlissener Kleidung herumlaufen und wurden daher in den verschiedenen Schulen, die sie besuchten, von ihren Mitschülern gehänselt. Als die Familie in den Heimatort des Vaters Welch in den Appalachen zurückkehrte, lebten sie bei Verwandten in einem Haus mit drei Zimmern ohne Wasser, Strom und Heizung, wo es feucht und schmutzig war und von Ungeziefer, Schlangen und Ratten wimmelte. Da Jeannette dies nicht mehr aushielt, schlug sie sich im Alter von 17 Jahren bis nach New York durch, wo sie in der Bronx bei ihrer älteren Schwester Lori wohnte. Dort machte sie ihren Schulabschluss, lieh sich von allen möglichen Leuten Geld und arbeitete in einer Anwaltskanzlei, um sich das Studium auf dem New Yorker Barnard College zu finanzieren.
Die Geschichte von Schloss aus Glas gewinnt ihre Dramatik aus der vielschichtigen Ambivalenz einer Suchtfamilie. Die amerikanische Journalistin Jeanette Walls erzählt die Ereignisse ihrer Kindheit, ohne sittliche Maßstäbe anzulegen. Sie beschreibt - typisch Journalistin - aus einer eher äußeren Perspektive, ohne zu verurteilen oder zu idealisieren. Dem Leser hilft diese nüchterne Erzählweise, Abstand zu wahren und sich weder mit der Liebe, den Abenteuern und der Faszination des Vagabunden-Lebens der Walls noch mit den Entbehrungen, Erniedrigungen und Leiden der Kinder allzu sehr zu identifizieren.
Mal schlägt das Pendel in die eine Richtung aus: "Reiche Stadtmenschen hatten schicke Wohnungen, aber ihre Luft war so verschmutzt, dass sie die Sterne nicht einmal sehen konnten, und wir wären ja schön verrückt, wenn wir mit ihnen tauschen wollten", mal in die andere Richtung: "Und mit erhobener Stimme fügte ich hinzu: »Ich hatte Hunger.« Mom starrte mich erschrocken an. Ich hatte gegen eine unserer stillschweigenden Regeln verstoßen: Es wurde von uns erwartet, dass wir stets so taten, als wäre unser Leben ein einziges langes, unglaublich lustiges Abenteuer."
Walls schafft es bis zum Ende, diese Ambivalenz feinfühlig auszubalancieren. Dieser Herangehensweise ist geschuldet, dass sie selten eine Innenperspektive des kindlichen Erlebens einnimmt. Der Hunger, der Ekel und die Schmerzen der Protagonistin Jeanette werden zwar benannt, doch werden sie mit wenigen Ausnahmen nicht näher ausgeführt, anders als z.B. in dem autobiografischen Roman Shuggie Bain. Diese sachliche Erlebensverzerrung ist typisch für traumatisierte Kinder aus Suchtfamilien, es ist eine funktionale Überlebensstrategie. Walls bleibt als Lieblingstochter so gegenüber Vater und Mutter loyal, sie schützt sich und ihre Familie vor moralischer Vereinnahmung durch andere und ihre Geschichte ist dadurch zugänglicher, lesbarer als die von Shuggie Bain.
Bei letzterer Autobiografie zersetzen die Auswirkungen des Suchtmittelkonsums die Familienbande und Shuggie, wie auch die älteren Geschwister zuvor, befreit sich, indem er weggeht. Bei Schloss aus Glass wird der Familienzusammenhalt hingegen durch die suchtbedingten Katastrophen noch gestärkt und die Protagonistin findet zu sich, indem sie in den Schoß der Familie zurückkehrt und zu dieser und der gemeinsamen Geschichte steht.
Obendrein nimmt Walls durch ihre Nüchternheit den mannigfaltigen Traumata den Schrecken, überfordert die LeserInnen nicht emotional und macht das Thema der Suchtfamilie einem breiterem Publikum zugänglich. Schloss aus Glass konnte so ein Bestseller werden. Zwar haben der Vater und die Mutter auf fast schon sympathische Art und Weise darin versagt, ihre grandiosen beruflichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Ansprüche und Versprechungen zu verwirklichen, doch die Tochter macht es besser und gibt der familiären Geschichte eine unverhoffte, erfolgreiche Wendung. Sie versilbert, so kann man es metaphorisch sagen, das Scheitern des Vaters, Gold zu finden.
Im Film wirft die erwachsene Jeanette dem Vater am Ende vor: "Reden ist nicht gleich Handeln." Die Autorin Jeanette Walls scheint diesen tragischen Zwiespalt ihrer Eltern im und durch das Schreiben überwunden zu haben. Es ist eine resiliente Geschichte.
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McCourt, F. (1996). Die Asche meiner Mutter. Irische Erinnerungen. München: btb.
Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit.
Frank McCourt ist ein amerikanischer Schriftsteller irischer Abstammung, wurde 1930 in New York geboren und starb dort 2009. In dem autobiografischen Roman Die Asche meiner Mutter, den er nach seiner Pensionierung als Lehrer schrieb, verarbeitete er die schlimmen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend, die er in bitterer Armut in Limerick in Irland verbrachte. Der Vater war alkoholkrank, war überwiegend arbeitslos, verlor Jobs alkoholbedingt schon wenigen Tagen und vertrank das wenige Geld, welches die Familie hatte.
Frank und die Geschwister wuchsen im Dreck, ohne Heizung und mit ständigem Hunger auf. Sie bettelten, prügelten sich, wurden geprügelt, sammelten Abfälle von der Straße und klauten, um nicht zu erfrieren oder zu verhungern. Drei der sieben Geschwister starben noch als Kleinkinder und auch Frank überlebte nur mit knapper Not eine Typhus-Erkrankung. Als Jugendlicher arbeitete Frank als Telegramm-Junge und sparte heimlich das notwendige Geld, um sich eine Schiffsfahrt zurück nach New York zu leisten.
Frank McCourt erzählt unprätentiös die Geschehnisse seiner Kindheit, ohne zu bewerten, zu moralisieren oder zu analysieren. Auch beschönigt und dramatisiert er nicht. Die Geschichte ist nichts für schwache Nerven, da er die schmutzigen, kaputten und bitteren Lebenszusammenhänge schonungslos bis ins Detail beschreibt. Eine Note am Rande: Zwar findet ein Teil der Geschichte, neunte bis 14. Lebensjah, auf dem Hintergrund des zweiten Weltkriegs statt, doch ist dieser aufgrund des Überlebenskampfes der Familie nur eine Nebensächlichkeit.
Mir hat gut gefallen, dass McCourt in einem restringierten Code schreibt. Die Sprache passt sich authentisch dem Denken und der naiven Sichtweise des Kindes und Jugendlichen an. Das Buch baut seinen Spannungsbogen aus dem Kontrast zwischen äußerer Armut und dem Reichtum des Erlebens des kindlichen Ich-Erzählers auf. Ich bin viel zu behütet aufgewachsen, um dem Buch sprachlich gerecht werden zu können, deswegen lassen wir Frank abschließend zu Wort kommen:
Sie ist mit dem Baby im Bett. Malachy und Michael schlafen oben in Italien. Ich weiß, ich brauche Mam gar nichts zu sagen, denn bald, wenn die Kneipen schießen, wird er singend nach Hause kommen und uns einen Penny anbieten, wenn wir für Irland sterben, und von jetzt an wird es anders sein, denn es ist schon schlimm genug, wenn ein Mann das Stempelgeld oder den Lohn vertrinkt, aber ein Mann, der das Geld für ein neues Baby vertrinkt, der ist tiefer gesunken als tief, wie meine Mutter sagen würde.
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Schnitzler, A. (1924). Fräulein Else.
Das 1924 erschienene Buch des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler ist eine Monolog-Novelle. Das gesamte Drama wird aus der Perspektive von Else als innerer Dialog ausgebreitet. Aus der angehörigenzentrierten Sicht ist es eine typische Geschichte der emotionalen und sexuellen Ausbeutung von Kindern aus Suchtfamilien. Else ist die Tochter eines spielsüchtigen Wiener Rechtsanwalts, der Gelder veruntreut hat und dem deswegen eine Inhaftierung droht.
Immer diese Geschichten! Seit sieben Jahren! Nein - länger. Wer möchte mir das ansehen? Niemand sieht mir das an, auch dem Papa nicht. Und doch wissen es alle Leute. Rätselhaft, dass wir uns immer noch halten. Wie man alles gewöht.
Es ist allerdings die (co-abhängig agierende) Mutter, die die Tochter bittet, bei einem reichen Freund der Familie, dem Kunsthändler Dorsay, um eine größere Summe zu betteln. Dorsay verlangt von Else als Gegenleistung, sich vor ihm zu entblößen. Else gerät in eine ausweglose psychische Krise zwischen der Loyalität zu ihrer Familie einerseits, welche Selbstaufgabe und -aufopferung bedeutet, sowie ihrer persönlichen und sexuellen Entwicklung und Autonomie als junge Frau andererseits. Das Schamgefängnis, die sprachlose Verzweiflung der Betroffenen und das tragische Unverständnis der anderen wird inszeniert:
Warum hört ihr mich denn nicht? Wisst ihr denn nicht, dass ich sterbe? Aber ich spüre nichts. Nur müde bin ich. Paul! Ich bin müde. Hörst du mich denn nicht? Ich bin müde, Paul. Ich kann die Lippen nicht öffnen. Ich kann die Lippen nicht öffnen. Ich kann die Zunge nicht bewegen, aber ich bin noch nicht tot.
Die Novelle macht deutlich, dass Traumatisierungen von Kindern aus Suchtfamilien schon in anderen historischen Kontexten, hier das höhere bürgerliche Milieu Wiens des beginnenden 20. Jahrhunderts, stattgefunden haben. Schnitzler entlarvt die moralisch sittliche Verlogenheit einer patriarchalen Gesellschaft, die ihre Analogie in der Verlogenheit der süchtigen Familie von Else findet.
Ende, M. (1973). Momo. Stuttgart: Thienemann.
Twain, M. (1884). Huckleberry Finns Abenteuer. Zürich: Diogenes.
Warum werden die beiden Klassiker von Michael Ende und Mark Twain hier aufgeführt? Huckleberry Finn ist der Sohn eines Alkoholikers und Raufbolds. Huckleberry muss sich nicht nur dem Zugriff seines gewalttätigen Vaters erwehren, auch die (co-abhängig) bevormundende Fürsorge der Gesellschaft bedroht seine Freiheit und Selbstverwirklichung. Bei Momo repräsentieren die grauen Herren die Sucht. Sie rauchen Zigaretten, die sie aus den Blütenblättern der Lebenszeit der Menschen gewinnen und sie manipulieren geschickt die Menschen, sich der Moral und dem Diktat der Beschleunigung zu unterwerfen. Die angstgetriebene Hetze der Menschen, Zeit zu sparen, kann als co-abhängig eingestuft werden.
Momo und Huckleberry repräsentieren beide einen leidenschaftlichen Gegenentwurf zu einer entfremdeten Welt: Sie sind spontan, authentisch, kreativ, mutig und eigensinnig, können gut zuhören und beobachten, lachen und weinen, spielen gerne, lieben den Müßiggang und genießen ihr Dasein in vollen Zügen. In ihrer Resilienz sind sie Vorbilder darin, für die eigene Unabhängigkeit und die anderer Menschen einzustehen.
Weitere Romane zum Thema, die ich (noch) nicht selbst gelesen habe:
Hecht.J. (2021). In diesem Sommer. München: C.H.Beck.
Klaffke-Römer, E. (2021). Mein Herz an stillen Tagen. Berlin: biografie.
Baron, C. (2020). Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Claassen.
Halbheer, M. (2015). Platzspitzbaby: Meine Mutter, ihre Drogen und ich. Lachen: Wörterseh.
Koch, C. (2010) Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern. Hamburg: acabus.