Süchtige sind selbstsüchtig, Angehörige selbstlos.

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illustration retten wollen

Perspektiven

Geschichte der Astronomie: Bis ins 16. Jahrhunderten glaubten die Menschen daran, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums sei. Nach der Bibel hatte Gott Himmel und Erde in sechs Tagen erschaffen und Erde und Menschen spielten in dieser Geschichte eine zentrale Rolle. Dieses geozentrische Weltbild war vor allem religiös bzw. politisch motiviert.

Als Galileo Galilei behauptete, dass die Sonne im Mittelpunkt stehe (Heliozentrisches Weltbild) und dies wissenschaftlich bewies, wurde er von der Inquisition bedroht und musste, um sein Leben zu retten, widerrufen. Andere Wissenschaftler, die durch ihre Popularität weniger geschützt waren als Galilei, wurden wegen ihrer heliozentrischen Lehre hingerichtet. Erst im 17. Jahrhundert setzte sich die Sichtweise, dass die Erde um die Sonne kreist, durch. Galileis Bücher standen bis 1835 auf dem Index der verbotenen Bücher. Erst 1992 wurde er offiziell durch die Kirche rehabilitiert.

Was hat die Geschichte der Astronomie mit der heutigen Suchthilfe zu tun?

Provokativ möchte ich behaupten, dass sich die Suchthilfe in der Geozentrik des Mittelalters befindet. Anstelle der Erde ruht im Fokus der süchtigen Geozentrik ein Frosch. Die Märchenfigur des Froschkönigs wird als Sinnbild des Süchtigen genutzt. Der Mond ist durch das Suchtmittel ersetzt, stellvertretend durch ein Bier symbolisiert.

Die um den Frosch kreisenden Gestirne repräsentieren die Angehörigen, Kinder, Freunde und Suchthelfer. Sie vereint das Ziel, dem Frosch bei der Überwindung seiner Sucht helfen zu wollen. Das Modell nenne ich die suchtzentrierte Sichtweise. In vielen Fällen funktioniert das Modell gut. Dann führt die Hilfe zum erwünschten Erfolg und der Suchtkranke hört auf, zu konsumieren. Davon profitiert das gesamte Umfeld.

Was aber, wenn die Sucht einen chronischen Verlauf nimmt, weil der Süchtige uneinsichtig oder unwillig ist? Dann fällt das Problem auf die Helfer zurück. Das Modell hat nun eine tragische Wirkung, indem die einseitige Perspektive eine selbstbestätigende Wirklichkeit erzeugt. Die kreisende Fokussierung der hilflosen Helfer auf den Frosch verstärkt dessen (selbst-)süchtigen Narzissmus und führt dazu, dass er die Hilfe im Sinne seiner süchtigen Interessen missbraucht: "Morgen höre ich auf, versprochen!" Die falsche Hoffnung: "Wir schaffen es!", führt dazu, dass die Helfer ihre Bemühungen fortsetzen und womöglich noch forcieren. Die Fixierung auf den "armen Kranken" und die Scheuklappen des helfenden Handelns verhindern, dass die Helfer innehalten und darüber reflektieren, wie hilf- und sinnlos ihr Tun ist.

Die Sucht des Süchtigen und die Suchtzentrierung der Helfer ist ein stabiles, abhängiges System, das sich rekursiv bestätigt und aufrechterhält. Dieser Teufelskreis hat für die Süchtigen, aber noch vielmehr für die betroffenen Angehörigen und Kinder ungünstige Folgen. Ihre Probleme, Leiden und Nöte werden übersehen.

Der geozentrischen Fixierung auf die Suchtkranken möchte ich durch ein heliozentrisches Weltbild der Angehörigenproblematik ergänzen. Ich bezeichne es als die angehörigenzentrierte Sichtweise der Sucht. Im Mittelpunkt des Modells steht - die Angehörigen von Suchtkranken repräsentierend - die Märchenfigur der Prinzessin. Der Begriff der Angehörigen wird als Konstrukt für alle Personen eingesetzt, die einem Suchtkranken nahe stehen und ihm helfen wollen. Dies können die Eltern, die Partnerin, ein Freund, ein Arbeitskollege, ein Arzt, ein Seelsorger, der fürsorgliche Nachbar, ein Suchthelfer oder im schlimmsten, allerdings nicht seltenen Fall ein Kind sein.

Die Angehörige ist die Sonne des Modells, die üblicherweise für Licht und Wärme sorgt, indem sie alles erledigt, was der Süchtige nicht mehr schafft, weil er seiner Sucht nachgeht. Sie putzt, sie kümmert sich um die Kinder, sie kauft ein, sie kocht, sie arbeitet und verdient Geld und sie putzt die Kotze weg, wenn er sich mal wieder besoffen übergibt. Sie hält die Familie zusammen und sorgt dafür, dass es irgendwie weiter geht. Sie tut es aus Liebe und manchmal einfach deswegen, weil einer es tun muss. Die Angehörige ist nach diesem Modell kein Anhängsel des Suchtkranken, sondern die zentrale Figur. Für diese große Leistung verdient sie Wertschätzung und Solidarität und sie benötigt Unterstützung. Denn wenn die Angehörige wegbricht, bricht das ganze soziale System zusammen.

Fazit: Solange die Suchthilfe sich ausschließlich um die Belange der Suchtkranken kümmert, arbeitet sie ineffektiv. Angehörige und Kinder von Suchtkranken benötigen dieselbe helfende Aufmerksamkeit und Zuwendung wie die Suchtkranken. Ich bin überzeugt, dass die finanziellen und personellen Ressourcen ausreichen. Übertriebene und wirkungslose (co-abhängige) Maßnahmen für die Suchtkranken könnten hinterfragt und abgebaut werden. Die frei werdenden Ressourcen könnten den Angehörigen und Kindern zur Verfügung gestellt werden. Auf dieser Website findet ausschließlich die angehörigenzentrierte Perspektive Anwendung.

Zurück zur Astronomie! Mittlerweile wissen wir, dass die Sonne auch nicht der Mittelpunkt des Universums ist und ein absoluter Mittelpunkt nicht zu ermitteln ist. Körper bewegen sich relativ im Raum zueinander (Relativitätstheorie). Demnach könnten Sucht und Co-Abhängigkeit als ein selbstreferentielles, soziales System betrachtet werden. Das aber ist eine Fortsetzung der Geschichte, von der die heutige Suchthilfe noch Galaxien entfernt ist...

Hinweis: Dieser Beitrag basiert auf meinem Artikel "Die Geozentrik der Suchthilfe - Vernachlässigte Angehörige", der in der Zeitschrift rausch, Ausgabe 01/2011, erschien.