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Nachstehend finden Sie ältere Meldungen aus den Vorjahren zum Thema der Angehörigen und meinem Engagement in der Sache.
Süchtige klagen laut, Angehörige leiden still.
Nachstehend finden Sie ältere Meldungen aus den Vorjahren zum Thema der Angehörigen und meinem Engagement in der Sache.
2023-04 | Film | Rezension
van Groeningen, F. (Reg., 2018). Beautiful Boy [Film]. United States: Amazon Studios.
Eine Betroffene, Mutter eines drogenabhängigen Sohnes, hat mir den Film empfohlen. Er beruht auf einer wahren Geschichte eines Vaters und seines drogenabhängigen Sohnes an der Westküste der USA (San Francisco, Los Angeles). Das Besondere ist, dass das Drehbuch auf den Erzählungen beider basiert, welche jeweils in Romanen niedergeschrieben wurden: "Beautiful Boy: A Father´s Journey Through His Son´s Addiction" von David Sheff und "Tweak: Growing Up on Methampetamines" von Nic Sheff.
Der Film wechselt ständig zwischen den Perspektiven von David und Nic. Die Filmszenen sind in Bezug auf den Sohn chronologisch geordnet, springen in Bezug auf den Vater indes in der Zeit hin und her. Die Rückblenden erzeugen einen noch tieferen emotionalen Einblick in das Erleben des Vaters. Der Zuschauer gerät so immer tiefer in den Strudel der eskalierend zerstörerischen Drogensucht von Nic und dem ebenso zerstörerischen Unterfangen des Vaters, den Sohn zu retten.
Die atmosphärische Dichte des Films wird durch den eher zurückhaltenden Einsatz von Sprache und durch die Inanspruchnahme von bis ins Detail ausgestalteten Kulissen, Musik, Landschaftsaufnahmen, Bildern und Symbolik verstärkt. Z.B. kommt der gleichnamige Song von John Lennon Beautiful Boy im Film vor. Das Lied handelt von einem Vater, der seinen Sohn nach einem Alptraum tröstet: "Close your eyes - Have no fear - The monster′s gone - He's on the run and your daddy′s here".
Zurück zum Filmplot: David wacht schließlich aus der Endlosschleife seines wahr gewordenen Alptraums auf. Als er von seinen verzweifelten Bemühungen loslassen kann und sich vom Sohn abgrenzt, erfährt die Geschichte eine dramatische Wendung.
2023-03 | Co-ABHAENGIG.de
Seelische Verletzungen sind schwer sprachlich zu fassen. Kreative, künstlerische Ausdrucksformen helfen, einen Zugang zum Schmerz zu finden sowie die Sprachlosigkeit abzumildern. Nicht wenige suchtbetroffene Angehörige schreiben oder malen, um ihre leidvollen Erfahrungen zu verarbeiten. Dies ist eine große Ressource und ich bin oft beeindruckt von den kleinen Kostbarkeiten, welche Angehörige mir zusenden oder welche KlientInnen mit in die Therapie bringen. Nicht selten bin ich der erste Rezipient und bleibe auch der einzige. Das ist schade. Schon länger beschäftigte mich der Gedanke, ob und wie man diesen Werken eine Bühne bieten kann. Ich freue mich, dass es geklappt hat. Co-ABHAENGIG.de hat eine neue Seite erhalten: Verseform.
Ich danke den DichterInnen herzlich für ihre Beiträge. Dreierlei Zweck soll damit verfolgt werden:
Die Verse wollen Betroffenen einen Spiegel für die eigene Verletztheit und Verletzbarkeit bieten und darüber das furchtbare Gefühl des Abgetrenntseins abmildern, ganz allein mit der leidvollen Problematik auf der Welt zu sein.
Sie wollen berühren und das - auch und vor allem emotionale - Verständnis der Angehörigenproblematik bei Interessierten und Fachmenschen vertiefen.
Sie können in Prävention, Beratung und Therapie eingesetzt werden, um anderen Betroffenen einen Spiegel vorzuhallten und andere Menschen für die Angehörigenproblematik der Sucht zu sensibilisieren.
2023-03 | NACOA | COA-Aktionswoche
NACOA Deutschland e.V. hat sich bei allen bedankt, die sich an der Aktionswoche 2023 beteiligt und den Kindern aus Suchtfamilien eine Stimme gegeben haben. Insgesamt habe es bundesweit über 120 kreative und vielfältige Aktionen gegeben. Aus den Fotos und Videos der erstmaligen durchgeführten Social Media-Kampagne #schlussmitdemstigma wurde ein Film erstellt, um darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig es ist, das Tabu zu brechen. Auch wurde auf der Website der Aktionswoche ein Pressespiegel mit Beiträgen in Radio und Fernsehen zusammengestellt.
Als jemand, der schon seit vielen Jahren mit Überzeugung und Engagement an der Aktionswoche teilnimmt, denke ich, dass das Thema der erwachsenen Kinder aus Suchtfamilien und auch anderer Angehöriger in der Woche zu wenig Beachtung findet. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass der WDR 5-Beitrag "Co-Abhängigkeit: Mitgefangen in der Sucht der Anderen", an dem Chandika Loh, Jil Rieger und ich beteiligt waren, Eingang in den Pressespiegel gefunden hat. - Schauen bzw. hören Sie selbst herein!
2023-02 | COA-Aktionswoche | Workshop
Im Rahmen der COA-Aktionswoche vom 12. bis 18.02. habe ich einen eintägigen Workshop gegeben: Reden, fühlen, trauen. Geladen waren psychotherapeutische KlientInnen, die durch eine Kindheit in einer Suchtfamilie traumatisiert sind. Teil der dissoziativen Symptomatik ist, dass sich die Betroffenen allein und abgetrennt fühlen und nicht über ihr Erleben sprechen können. Sie sind gefangen im stillen Leiden. Der Workshop sollte dazu dienen, Öffentlichkeit herzustellen, Abgetrenntheit abzumildern und Raum für Begegnung und Austausch zu geben. Er war inhaltlich dreigeteilt:
Scham, Schweigen und Annahme
Trauer, Verletztheit und Trost
Wut, Sehnsucht und Lebenslust
In vor allem Paar- und Kleingruppenarbeit wurde Raum gegeben, miteinander zu schweigen, zu reden, sich gegenseitig zuzuhören und sich zu verstehen. Eine Teilnehmerin meldete am Ende zurück, mit ganz viel Angst gekommen zu sein und das erste Mal in ihrem Leben über ihre Vergangenheit und Verletztheit geredet zu haben. Sie drückte Erleichterung und Erstaunen darüber aus, in den anderen einen Spiegel ihrer selbst gefunden zu haben. Eine andere Teilnehmerin lachte und weinte gleichermaßen zum Abschluss, weil sie soviel Wertschätzung erfahren habe, was sie noch nicht einzuordnen wisse.
Für mich als Psychotherapeut war es eine berührende Erfahrung, wie die TeilnehmerInnen über ihren eigenen Schatten gesprungen sind. Betroffene, die nicht weinen können, nicht wütend werden können, keine Nähe eingehen können oder sich selbst ablehnen, haben im Verlauf des Workshops wie selbstverständlich geweint, sind laut geworden und haben es genossen, anderen nahe zu sein und Annahme zu erfahren. - Selbsthilfe ist die beste Hilfe. Die TeilnehmerInnen haben sich verabredet, um über die Gründung einer Selbsthilfegruppe zu sprechen.
Um Ihnen einen Einblick in die Therapie des Suchttraumas zu geben, ist der Impuls Wütender Lebenshunger angehängt, der als Fragestellung für den dritten Teil des Workshops diente. Nutzen Sie ihn gerne, um Ihre Lebenslust und -unlust zu explorieren.
2023-02 | Bundesweit | COA-Aktionswoche
Vom 12. bis 18.02. findet die bundesweite Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien unter dem Motto "Vergessenen Kindern eine Stimme geben" statt. Folgendes Zitat stammt von der Website der COA-Aktionswoche und informiert umfassend über Ablauf, Inhalt und Zweck:
Ziele der COA-Aktionswoche: Kinder aus suchtbelasteten Familien sollen gehört und gesehen werden. Mit der COA-Aktionswoche rücken wir Kinder aus suchtbelasteten Familien eine Woche lang in den Fokus der Öffentlichkeit und der Medien, damit deutlich wird: Mehr als 2,6 Millionen Kinder in Deutschland leiden unter Suchtproblemen ihrer Eltern. Wir, das ist zum einen der Verein NACOA Deutschland, der die COA-Aktionswoche bundesweit organisiert – aber natürlich auch alle Mitmachenden, wie Vereine, Initiativen, Organisationen, Anlaufpunkte, COA-Hilfsangebote, Selbsthilfegruppen u. v. m.
Während der COA-Aktionswoche – immer rund um den Valentinstag am 14. Februar:
sensibilisieren wir Menschen, die mit Kindern arbeiten (Erzieher*innen, Lehrer*innen, Sporttrainer*innen, Jugendgruppenleiter*innen, Ärzt*innen...), Kinder aus suchtbelasteten Familien zu erkennen.
stellen Projekte und Initiativen mit Aktionen und Veranstaltungen ihre Arbeit vor.
machen wir Hilfsangebote öffentlich.
fordern wir politisch Verantwortliche von Gemeinden bis in den Bund auf, sich für mehr Unterstützungsangebote für COAs einzusetzen und diese Hilfen langfristig zu finanzieren.
Die COA-Aktionswoche gibt es seit 2011 in Deutschland und in den USA. Außerdem findet sie z.B. regelmäßig auch in Großbritannien, der Schweiz, in Korea oder Slowenien statt.
2023-02 | WDR 5 | Podcast
Die Journalistin Laura Mareen Janssen hat für WDR 5 einen Podcast erstellt: "Co-Abhängigkeit: Mitgefangen in der Sucht des Anderen". In dem Feature kommen die beiden selbstbetroffenen Expertinnen Chandika Loh und Jil Rieger und auch ich als Psychotherapeut zu Wort. Frau Janssen hat die Inhalte der drei Interviews dramaturgisch so kunstvoll miteinander verwoben, dass ein informatives, umfassendes und gut zugängliches Bild zum Thema entsteht, welches gleichermaßen Selbstbetroffene, Fachleute als auch am Thema Interessierte anspricht. Rundum gelungen und hörenswert, wie ich finde! Der Podcast wird am Montag den 13.02. in der Sendung Neugier genügt zwischen 10:04 und 12:00 auf WDR 5 ausgestrahlt und ist auf der WDR 5-Seite aufrufbar. Aus der Anmoderation des Radiobeitrags:
Co-abhängige Menschen sind in der Regel Kinder, Partner:innen oder Freunde von Suchtkranken. Viele von ihnen leiden sehr unter dem Miterleben der Sucht und nicht selten führt das zu gesundheitlichen Schäden, berichtet Laura Mareen Janssen.
Einen Menschen lieben, der suchtkrank ist. Chandika Loh und Jil Rieger haben das beide erlebt. Bei Jil war es die erste große Liebe mit Anfang 20. Chandika heiratet ihren Partner und bekommt 2 Kinder. Das war 1985. 37 Jahre liegen zwischen den Erfahrungen der beiden. Und doch gibt es da diese dunklen Momente im Zusammenleben mit ihren Partnern, die beide kennen: die emotionalen und auch körperlichen Übergriffe, die mit jedem Konsum normaler werden. Und auch das Hoffen, dass alles besser wird, wenn man das Suchtproblem des anderen in den Griff bekommt.
2023-02 | Rohde, Rieger | Podcast
In seinem Podcast "Schnacken mal anders" unterhält sich Lukas Rohde mit Jil Rieger über ihre co-abhängigen Erfahrungen: "Jil Rieger - Co-Abhängigkeit - Sucht betrifft immer mehr als eine Person". Jil Rieger beherrschte die Kunst, ihre belasteten Lebenserfahrungen in unprätentiöse Worte zu kleiden. Sie macht es sich schwer, damit es leicht wird. Ihre Ausführungen sind authentisch, intelligent und überfordern nicht. Lukas Rohde macht es richtig, indem er durch seine Frage zwar inhaltlich ein wenig steuert, doch ihr dabei viel Raum für die narrative Entfaltung lässt. Eine Betroffene, der ich die Sendung empfohlen habe, meldete mir zurück, durch Jil Rieger verstanden zu haben: "Selbstlosigkeit ist auch eine Sucht. Eigentlich ist es dasselbe, nur in einer Form." Hören Sie mal rein und bilden Sie sich selbst eine Meinung!
Übrigens, Jil Rieger unterhält einen eigenen Podcast zum Angehörigenthema: Liebling, wir sind abhängig!.
» Podcast Schnacken mal anders
» Podcast Liebling wir sind abhängig!
2022-12 | NACOA | Website
NACOA Deutschland, die Interessenvertretung für Kinder aus suchtbelasteten Familien, startet eine neue Internetplattform als Informations- und Beratungsangebot in altersgerechter Sprache. Wie kommen Kinder und Jugendliche von suchtkranken Eltern an Informationen und Hilfsangebote? Wie erreicht man sie im Internet um Ihnen zu zeigen, dass Sie nicht alleine sind? Wie finden sie Wege aus der Krise?
NACOA hat sein bisheriges Angebot für diese Zielgruppe überarbeitet und bietet nun unter dem Motto "Trau Dir!" altersgerechte Informationen an. Comics aus dem Alltag und Hörbeispiele mit Berichten von Betroffenen zeigen die unterschiedlichen Rollen, die Kinder als Folge der Suchtkrankheit der Eltern einnehmen. Die Betroffenen werden motiviert, sich anderen in ihrer Not anzuvertrauen, und es werden ihnen konkrete Möglichkeiten aufgezeigt, sich Hilfe zu holen.
2022-12 | Weiße Weihnacht
Weiße Weihnacht ist eine Kampagne, ein Zeichen der Solidarität mit den Kindern aus Suchtfamilien zu setzen und über die Festtage auf Alkohol zu verzichten. Für viele der drei Millionen suchtbelasteten Kinder in unserem Land ist aktuell die schlimmste Zeit des Jahres. Advent, Weihnachten und Silvester sind für sie verbunden mit Vernachlässigung, Streit und Gewalt. Weitere fünf bis sechs Millionen erwachsene Kinder aus Suchtfamilien stecken entweder noch mitten in der Sache drin oder, falls sie sich befreien konnten, werden von ihren traurigen Erinnerungen heimgesucht. Meine Gedanken sind ebenso bei den weiteren Angehörigen, denen die suchtbegründeten Sorgen und Nöte die Festzeit verderben.
Weiße Weihnacht verstehe ich als einen Gegenentwurf zum gesellschaftlichen Konsum- und Harmonierausch dieser Tage und steht für nüchterne Besinnung. Weniger ist bekanntlich mehr! Gönnen Sie sich Augenblicke des Innehaltens. Eine kleine adventliche Achtsamkeitsübung möchte ich Ihnen vorschlagen: Machen Sie einen mehr oder weniger ausgiebigen Spaziergang durch die Kälte und Dunkelheit dieser Tage. Danach erfreuen Sie sich mit einer warmen Tasse Kräutertee in der Hand daran, einer Kerze zuzusehen, wie sie in aller Seelenruhe herunterbrennt. Dies schafft die innere Voraussetzung dafür, an den Advents- und Festtagen sich selbst und anderen Momente ungeschminkter Zuwendung und Aufmerksamkeit zu schenken. Gemeinsam, nüchtern und besonnen singt es sich viel schöner unter dem Weihnachtsbaum.
Machen Sie mit bei Weiße Weihnacht und erklären Sie Ihre Teilnahme und Unterstützung auf der verlinkten Website.
2022-11 | BARMER | Interview
In schon 2020 hatte ich ein Interview zur Angehörigenproblematik mit einer Journalistin, die dieses im Auftrag der Barmer führte. Die Angelegenheit habe ich aufgrund der Corona-Krise aus den Augen verloren. Um so erstaunter war ich nun, als ich durch eine Zuschrift über den Beitrag gestolpert bin: "Co-Abhängigkeit: Mit Sucht umgehen als Angehöriger". Da es mir gut gefällt, wie die Internetredaktion der Barmer die Informationsfülle des Interviews in Szene gesetzt hat, ist es folgend verlinkt.
2022-11 | ZEIT | Artikel
In der ZEIT vom 10. November 2022 wurde ein Artikel zum Thema der Kinder aus Suchtfamilien publiziert (S. 20). Der Artikel "Mama?" ist meines Erachtens gut recherchiert und er wurde treffenderweise in der Rubrik Verbrechen gebracht. Sara und ihr jüngerer Bruder wurden durch die alkoholkranke Mutter jahrelang missbraucht. Die Behörden wussten davon, unternahmen aber nichts. Als junge Frau, obgleich psychisch krank, traut sie sich, die Mutter anzuzeigen. Ich danke dem Journalisten, Alexander Rupflin, für den ungeschminkten, schonungslosen Text und empfehle allen, die nicht zu zartbesaitet sind, die Ausgabe der ZEIT zu erwerben, um ihn zu lesen. Online konnte ich den Artikel bedauerlicherweise nicht finden, sodass er nicht verlinkt ist.
Seit ungefähr zwei Jahrzehnten bin ich treuer ZEIT-Leser. Es ist der erste Beitrag, den ich zum Thema in der ZEIT entdeckt habe. Bitte, bitte, liebe ZEIT-Redaktion, bringt das sowohl individuell tragische als auch gesellschaftlich brisante Thema häufiger. Es benötigt motivierende, kritische Öffentlichkeit, damit die Gesundheitspolitik und die Hilfesysteme endlich ihre diesbezügliche Missachtung und Trägheit überwinden und der Not der Betroffenen angemessen tätig werden. Vernachlässigkeit und Übergriffigkeiten, wie sie Sara und ihr jüngerer Bruder erfahren haben und aktuell drei Mio. Betroffene tagtäglich erfahren, sind oftmals juristisch, doch stets moralisch ein Verbrechen. Unterlassene Hilfe durch Missachtung und Untätigkeit, gleichgültig ob es von einzelnen Personen, Institutionen oder der Gesellschaft ausgeübt wird, ist in meinen Augen ebenso ein ethisches Verbrechen.
2022-10 | Warstein | Fortbildung
Im Oktober habe ich eine eintägige Fortbildung zum Thema Co-abhängige Verstrickungen in der Suchthilfe gegeben. Ich bin gleich mehrfach positiv überrascht, dass das Fort- und Weiterbildungszentrum Warstein des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe dieses brisante und tabuisierte Thema angefragt hat, dass ausreichend MitarbeiterInnen der westfälischen Suchthilfe gekommen sind und die Veranstaltung stattgefunden hat sowie dass die TeilnehmerInnen, mehrheitlich aus der Sozialarbeit, ein Bewusstsein für die Problematik mitbrachten. Ich nehme an, dass genau die MitarbeiterInnen der Suchthilfe gekommen sind, die für das Thema offen sind. Den Workshop habe ich als ganz gewinnbringend erlebt und ich bin bereichert und optimistisch nach Hause gefahren.
Die Inhalte des Workshops sind kurz skizziert: 1. Suchtkranke bringen eine starke Zerissenheit oder Widersprüchlichkeit mit, die alle, die einen engen Kontakt haben und helfen wollen, herausfordert. Sucht ist eine Krankheit, aber es ist auch ein manipulatives, unsoziales und übergriffiges Verhalten. 2. Suchthelfer sind Menschen mit psychosozialen Neigungen und Problemen und können sich infolgedessen in den abhängigen Ambivalenzen und Manipulationen verstricken. Ich bezeichne es als co-abhängige Gegenübertragung, wenn Helfer die süchtige Devianz bagatellisieren und verleugnen, Sucht ausschließlich als Krankheit wahrnehmen und übermäßig helfen. 3. Verstrickungen können nicht verhindert werden, sie ergeben sich. Doch sie können genutzt werden. Es geht darum, sie aufzuspüren und geeignete Strategien der Grenzsetzung einzusetzen und die Unabhängigkeit als Helfer wiederherzustellen.
Darüber geschieht Entwicklung, auf Seiten der Suchthelfer und auch, falls sie sich einlassen, der Klienten. Deswegen ist es wichtig, dass Suchthelfer fortwährend ihr Berufsrisiko reflektieren (Kollegiale Beratung, Selbsterfahrung, Supervision) und flexibel sowohl Strategien des Helfens als auch der Abgrenzung einsetzen können. Eine gute Psychohygiene auf Seiten der Suchthelfer ist gleichbedeutend mit einer unabhängigen Beziehungsgestaltung und dies ist wiederum Voraussetzung für eine effektive und nachhaltige Suchthilfeleistung. Die Qualität der Psychohygiene und die der Hilfeleistung stehen in einer notwendigen Wechselwirkung und verstärken sich gegenseitig.
In der Vorbereitung der Fortbildung habe ich eine Tabelle als Hilfsmittel erstellt. Ich habe dabei entwurfsmäßig ausprobiert, den Zusammenhang der psychosozialen Auffälligkeiten der Sucht, der co-abhängigen Gegenübertragungen und der Alternativen der gesunden Abgrenzung herzustellen. Der Entwurf wurde durch das Erarbeitete im Workshop bestätigt und durch die Anregungen der TeilnehmerInnen konnte ich Dinge noch präzisieren. Für die TeilnehmerInnen und alle anderen Interessierten ist die Tabelle zum Herunterladen verlinkt.
» Tabelle: Süchtige Auffälligkeiten, co-abhängige Gegenübertragungen und gesunde Abgrenzung
2022-09 | Detmold | Vortrag
Die Selbsthilfe-Kontaktstelle Detmold feiert dieses Jahr ihr 20-jähriges Bestehen. Selbsthilfe ist wichtig und sie ist zentral. Jede Hilfe, gleichgültig ob Selbsthilfe, Beratung oder Therapie, ist im Kern Hilfe zur Selbsthilfe. Ein gut gemachtes Hilfeangebot basiert auf der Förderung von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Die Autonomie des Hilfesuchenden ist Ausgang, Methode und Ziel einer effektiven Hilfeleistung. Deswegen ist Selbsthilfe das Eigentliche.
Anders als im Bereich Sucht mangelt es an Selbsthilfeangeboten für erwachsene Kinder aus Suchtfamilien und andere Angehörige. Deswegen freut es mich, dass die Kontaktstelle mich eingeladen hat, im Rahmen ihres Jubiläums einen Vortrag zu halten. Der Titel lautet: "Die langen Schatten der Sucht. Eine unglückliche Kindheit, ein unglückliches Leben?" Näheres über die Inhalte können sie in der verlinkten Ankündigung erfahren. Die Veranstaltung findet in Präsenz am Mittwoch 07.09. um 19:00 Uhr in der Kontaktstelle in der Bismarckstraße 8 in Detmold statt.
Nachschlag zum Vortrag, 09.09.2022: Es war schön, wieder einen Vortrag in Präsenz zu halten und unmittelbare, zwischenmenschliche Ressonanz zu erfahren. Das gesundheitspolitische Fazit meines Vortrags möchte ich hier festhalten, weil es auf den Punkt bringt, wo Entwicklungsbedarf besteht: Für betroffene Kinder und andere Angehörige wünsche ich mir, dass sich mehr Präventionskräfte, Pädagogen, Sozialarbeiter, Suchttherapeuten und Psychotherapeuten in der Behandlung des Suchttraumas qualifizieren und engagieren. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die Millionen Betroffenen in der Selbsthilfe zusammentun, sich organsieren und vernetzen, Politik in eigener Sache machen, gesellschaftlich aufbegehren und lauthals Unterstützung einfordern. Denn Selbsthilfe ist das Eigentliche.
Das Honorar habe ich in Absprache mit der Selbsthilfe-Kontaktstelle NACOA Deutschland gespendet.
2022-08 | Selbsthilfe | Kommentar
Die Apotheken Umschau hat einen Artikel über Co-Abhängigkeit mit einem Interview mit mir gebracht (s.u.). Daraufhin habe ich viele Zuschriften von Angehörigen erhalten, die sich gefreut haben, dass ihre Thematik aufgegriffen wurde. Sie haben sich durch den Artikel von Herrn Andrae und meine Interviewaussagen verstanden gefühlt. Ebenso viele haben mich angeschrieben, weil sie Hilfe suchen und meinen Rat hören wollten.
Ein Detail des Interviews betraf das 12-Schritte-Programm der Al-Anon, welches ich ambivalent bewerte. Einerseits schätze ich Al-Anon, weil sie immerhin eine Angehörigenselbsthilfe vorhalten, und andererseits gefällt mir am 12-Schritte-Program nicht, dass es religiös, autoritär und nicht mehr zeitgemäß ist. Über diese, meine Meinung waren einige unzufrieden und sie haben mir ihre anders lautende Sichtweise dargestellt. Gedanken sind bekanntlich frei und ich habe diese Bekundungen als Bereicherung erfahren. In zwei Fällen wurde ich sogar gefragt, wie ich zu einer solchen Bewertung komme. Daraus hat sich ein für beide Seiten gewinnbringender Austausch ergeben.
Nun habe ich von bekennenden AA, also Suchtbetroffenen, auch einige wenige unfreundliche Zuschriften erhalten. Sie schreiben genau in der Form, die ich als autoritär kritisiere. Der Duktus ist von oben herab und belehrend. Darauf möchte ich hier nicht eingehen. Ich lösche solche Emails und lass mir den Tag nicht verderben. Auch darauf, dass diese AA nicht bemerkt haben, dass es nicht um Sucht, sondern um die Angehörigenproblematik geht, will ich nicht weiter eingehen. Lieber gehe ich ein Eis essen.
Nur eins möchte ich vertiefen. Im Programm steht drei Mal das Wort Gott, zwei Mal ist die Sprache von Beten und es wird u.a. aufgefordert, sich der Sorge Gottes anzuvertrauen. Dennoch werde ich in den Zuschriften von AA zurechtgewiesen, dass ich das Programm falsch verstehe und es nicht religiös sei. Das Wort Gott würde für etwas Spirituelles stehen und jeder/jede sei frei, darunter zu verstehen, was er/sie möchte. Merken Sie den Widerspruch? Wenn ich dieser Einladung zur individuellen Auslegung nachkomme und das Wort Gott auf meine Art und Weise wortwörtlich und religiös begreife, dann liege ich in den Augen dieser AA falsch und werde verbal „gesteinigt“. Da passt etwas nicht.
Ich mag an Religion, dass alles Auslegung ist. Dies hat Religion mit Eissorten gemein, einer mag Schokolade, ein anderer Erdbeere und ein weiterer Vanille. Geschmack ist wie Glaube eine sehr subjektive Angelegenheit. Früher zu Zeiten der Kreuzzüge war dies anders, doch heute in demokratischen Zeiten darf jeder/jede glauben und an Eis wählen, was er/sie lieb hat. Das gefällt mir. Und noch eins, liebe AA: Religion ist im Kern durch den Glauben an einen Gott oder mehrere Götter definiert. Das Wort Gott meint Gott. Das ist nicht diskutierbar, sonst wird menschliche Kommunikation beliebig. Wo kommen wir hin, wenn wir religiös Gott sagen, indes spirituell Eis meinen?
Eins habe ich durch die belehrenden Zuschriften der AA verstanden. Dafür bin ich dankbar. Das 12-Schritte-Programm ist zur Behandlung von Sucht entwickelt worden. Es geht darum, süchtiges Unrecht und Fehlverhalten zu erkennen und die angerichteten Schäden - soweit möglich - wiedergutzumachen. Dafür ist das Programm geeignet und hat in den letzten Jahrzehnten einen guten Job gemacht. Doch warum wurde es eins zu eins auf die Angehörigenhilfe übertragen? Kinder und Angehörige sind Opfer der Sucht. Sie helfen selbstlos und leiden unter übermäßigen Scham- und Schuldgefühlen. Ihnen wird Unrecht getan. Sie brauchen ein anderes, komplementäres Programm, welches sie anleitet, das ihnen angetane Unrecht zu erkennen, sich konsequent davon abzugrenzen und das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen. Das 12-Schritte-Programm zielt am Bedarf der Angehörigen vorbei. In der Kooperation mit Al-Anon-Gruppen habe ich erfahren, dass diese die Fehlausrichtung sehr wohl erkennen und korrigieren. Das ist gut so.
Zurück zum Thema des Artikels in der Apotheken Umschau: Es mangelt an Selbsthilfe für Angehörige. Das 12-Schritte-Programm ist keine Lösung dieses gesellschaftlichen Defizits. Für eine bedarfsgerechte, angehörigenzentrierte Selbsthilfe braucht es zeitgemäße, fachlich fundierte Konzepte, wie beispielsweise das AWOKADO-Konzept von Barnowski-Geiser (2015) oder mein Leben-zurück-Konzept (Flassbeck, 2021). Diesbezüglich sind alle Selbsthilfeverbände gefragt, sich zu engagieren und nachzubessern. Das wissenschaftliche AnNet-Projekt (Angehörigennetzwerk, 2017) hat übrigens vorgemacht, wie eine solche Selbsthilfe gelingen kann.
2022-07 | Interviews
Ende Juni und Anfang Juli haben das Magazin der Süddeutsche Zeitung und die Apotheken Umschau das Thema Co-Abhängigkeit aufgegriffen. Die Beiträge sind mit Interviews mit mir angereichert worden. Ich danke den JournalistInnen Frau Sara Peschke und Herrn Christian Andrae für die gelungene Kooperation. In beiden Artikeln wird das Thema in seiner leidvollen Tragweite und gesellschaftlichen Tabuisierung angemessen behandelt. Seitdem habe ich jede Menge Zuschriften von betroffenen Angehörigen und in der Angehörigensache engagierten Personen erhalten. Das erlebe ich sehr bereichernd. Zwei Dinge fielen mir dabei besonders auf.
Erstens suchen viele Angehörige Hilfe und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen, weil es bei Ihnen vor Ort an speziellen Angeboten mangelt. Zweitens haben mich Selbsthilfestellen und auch Präventionsstellen auf ihre Hilfeangebote für Angehörige und Kinder aus Suchtfamilien hingewiesen. So habe ich erfahren, dass es in Erfurt eine gut aufgestellte Elternhilfe gibt, in München eine Selbsthilfe, die Sucht als Familienstörung versteht und entsprechend auch Angebote für Angehörige realisiert, und in Bochum eine Jugendhilfestelle mit besonderem Augenmerk auf Kinder und Jugendliche aus Suchtfamilien. Ich wünsche mir, dass sich diese Leuchtturmprojekte besser vernetzen würden, um an einem Strang in der Sache zu ziehen, sich gegenseitig zu bereichern und Vorbild für die vielen Regionen zu sein, die angehörigenbezogen unterversorgt sind.
» Apotheken-Umschau 24.06.2022
» Süddeutsche Zeitung Magazin 04.07.2022
(Bezahlinhalte)
2022-06 | Rezension | Neuerscheinung
Barnowski-Geiser, W. (2022). Krankheitsscham - die verborgene Emotion. Erkennen, verstehen, helfen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Frau Dr. Barnowski-Geiser, die Autorin des Ratgebers "Vater, Mutter, Sucht" für erwachsene Kinder aus Suchtfamilien, hat ein Buch über Krankheitsscham veröffentlicht. Krankheitsscham ist demnach ein Prozess, der allen somatischen und seelischen Krankheiten zugrunde liegt, den Krankheitsprozess verstärken und den Heilungsprozess hemmen kann. Wie Schamreaktionen in der Behandlung therapeutisch aufgegriffen und für die Genesung sogar genutzt werden können, wird in dem Buch differenziert dargestellt. Ich durfte das Werk für das Socialnet rezensieren.
Warum ist das Thema Krankheitsscham im Zusammenhang der Angehörigenthematik wichtig? Die Neigung, mit Scham auf Erkrankungen zu reagieren, ist stark von der biografischen Vorbelastungen abhängig, in der Kindheit beschämt, beschuldigt oder erniedrigt worden zu sein, was im Buch ausführlich dargestellt wird. Beschämung ist ein Trauma, welches Kinder in Suchtfamilien und auch andere Angehörige von Suchtkranken im Besonderen betrifft. Die Neuerscheinung ist daher auch ein wertvoller Gewinn, psychisch oder psychosomatisch erkrankte Angehörige zu verstehen und ihnen zu helfen.
2022-06 | Co-ABHAENGIG.de | Kurzgefasst
Im letzten Jahr haben JournalistInnen gehäuft wegen Interviews zur co-abhängigen Thematik angefragt. Dies löst ambivalente Reaktionen in mir aus. Auf der einen Seite sind Interviews stressig und ich bin nicht gut darin, verstrickte Sachverhalte spontan, eloquent auf den Punkt zu bringen. Als Psychotherapeut kann ich besser Fragen stellen, als Antworten geben. Die JournalistInnen wünschen - verständlicherweise - prägnante Antworten und unterschätzen dabei die Komplexität der co-abhängigen Problematik und die gesellschaftliche Brisanz des Tabuthemas. Auf der anderen Seite benötigt die Angehörigensache Öffentlichkeit. Genau daran mangelt es. Das Engagement der JournalistInnen finde ich daher begrüßens- und unterstützenswert.
Angeregt durch die Interviews habe ich Co-ABHAENGIG.de mit einer neuen Seite versehen: Kurzgefasst. Hier habe ich die wichtigsten Fragen gesammelt und versucht, Antworten auf den Punkt zu bringen, damit Sie sich einen schnellen Überblick über die Angehörigenthematik verschaffen können.
2022-05 | NRW | RISKID
Die Landesregierung von NRW regelt als erstes Bundesland den Informationsaustausch bei Verdacht auf Kindesmisshandlung. Das Problem des "Doctor-Hopping" ist altbekannt: Wenn KinderärztInnen ihren Verdacht auf Misshandlungen ansprechen, verschleiern die Täter ihr Handeln, indem sie die Praxis wechseln. Dieselbe Täterstrategie wird auch bei Kita- und Schulwechseln angewendet.
Misshandlungen und Vernachlässigung ist allzu häufig mit Suchtmittelmissbrauch der Eltern assoziiert. Psychische Gewalt und Vernachlässigung haben alle meine psychotherapeutischen KlientInnen in ihrer Kindheit in einer Suchtfamilie erlebt. Geschätzt die Hälfte von ihnen war auch physischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Eine besondere Schwere ist dadurch gegeben, dass Vernachlässigung und Übergriffigkeit gewöhnlich viele Jahre andauern, die Umwelt wegschaut und die Kinder keinen Schutz erfahren. Das Hilfesystem ist zwar bemüht, doch allzu oft hilflos.
Mit Hilfe des digitalen Informationssystems RISKID soll der interkollegiale Austausch von ÄrztInnen bei Verdachtsfällen erleichtert werden. Auch weitere Facharztgruppen wie z.B. GynäkologInnen, AllgemeinmedizinerInnen und Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen sind aufgefordert, sich zu beteiligen. In dem System können sich ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen wie in einer virtuellen Großpraxis über Befunde und Diagnosen austauschen, wenn unklar ist, ob bei einem Kind ein Missbrauch oder eine Misshandlung vorliegen könnte. Andere Institutionen wie Jugendämter oder Schulen sind vom Informationssystem aus Datenschutzgründen ausgeschlossen. RISKID ist meines Erachtens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
2022-05 | IFT Institut | Suchthilfestatistik
Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS) ist das nationale Dokumentations- und Monitoringsystem im Bereich der Suchthilfe in Deutschland und wird jährlich durch das Institut für Therapieforschung (IFT) in München durchgeführt und publiziert. Ich habe mir das 204 Seiten starke Werk von 2020 vorgenommen (» Statistik als PDF) und nach Statistiken zu Angehörigen gesucht. Eine einzige Erwähnung der Angehörigen habe ich entdecken können (S. 17): 8% der Betreuungen fanden "mit Angehörigen oder anderen Bezugspersonen" statt.
Ob die Angehörigen eine eigene Beratung erhielten oder nur in die Betreuung der Suchtkranken einbezogen wurden, wird nicht in der Zahl aufgeschlüsselt. Darüber hinaus gehen in die Statistik sowohl kurze als auch lange Betreuungen gleichberechtigt ein. Es ist anzunehmen, dass Angehörige eher kurze Beratungen erhalten und die zeitintensiven Prozesse für die suchtkranke Klientel reserviert sind. Die Zahl der Angehörigenbetreuungen ist in Folge dessen beträchtlich, im unbekannten Maß nach unten zu korrigieren, um den wahren Aufwand der ambulanten Einrichtungen für Kinder und andere Angehörige einzuschätzen. 22 Jahre nach dem von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ausgerufenen "Jahr der Angehörigen" darf man mithin von Systemversagen sprechen.
Drei weitere Stellen sind mir in Hinblick auf die Angehörigenproblematik in dem DSHS besonders ins Auge gefallen. In der Statistik zur Verteilung von Hauptdiagnosen in ambulanten Einrichtungen erfährt man (S. 18), dass nahezu die Hälfte der Klienten die Einrichtungen aufgrund alkoholbezogenen Störungen aufsucht (48%). Es folgen Störungen im Zusammenhang von Cannabinoiden (19,7%) und Opioiden (9,5). Allerdings gibt es in der Statistik keine Angaben zu Angehörigen, obgleich die meisten Suchtberatungsstellen heute Angehörigenberatung anbieten. Warum wird diese nicht ebenfalls erfasst?
Auf den Seiten 15 bis 17 werden die verschiedenen Angebote der ambulanten Einrichtungen und deren Kooperationen mit anderen Diensten quantifiziert. Zwar erfährt man, dass 90,8% der Einrichtungen Sucht- und Drogenberatung und 52,8% Prävention und Früherkennung anbieten sowie 72,3% der Einrichtungen mit der Selbsthilfe kooperieren, doch die Angehörigeangebote werden nicht erhoben. Warum nicht?
Neben den konsum- und verhaltensbezogenen Suchtproblemen werden weitere Problembereiche untersucht (S. 20). Die Hälfte der ambulanten Klienten gibt demnach psychische Probleme an und etwas zwei Fünftel schätzt die familiäre Situation als problematisch ein. Gewaltausübung wird indes selten berichtet (3,9%). Die AutorInnen gehen aufgrund der tabubesetzten Thematik von einer Untererfassung aus. Die Zahl spiegelt folglich die süchtige Verleugnung wieder. Warum wird nicht in Bezug auf die Opfer, also die Angehörigen, ergänzend nach Problembereichen wie z.B. Gewalt gefragt, um zu Daten zu gelangen, die die Realität eher abbilden?
Dem IFT Institut habe ich eine E-Mail mit meinen Fragen und Anmerkungen geschickt und tatsächlich schon am Folgetag eine freundliche und aufschlussreiche Antwort erhalten. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken! In der Antwort wird erstens der angehörigenbezogene Mangel der Statistik bestätigt, aber auf den Kernzweck der DSHS verwiesen, die Versorgung von Menschen mit Suchterkrankung mit Fokus auf leistungsrelevante Tatbestände darzustellen. Zweitens werden methodische Schwierigkeiten erläutert. Und drittens wird auf das Jahr 2027 verwiesen, in dem gegebenenfalls die Erhebung in Bezug auf die Angehörigen nachgebessert werden soll. Warten wir es ab!
2022-04 | Sucht-Hilfe | Broschüre
Mir wurde von einer empörten Fachkraft der Jugendhilfe eine Broschüre einer Sucht- und Jugendhilfestelle in L. zugespielt. In dem "Ratgeber zur Aufklärung und Vorbeugung" (IV/22) gibt es auch einen Abschnitt zu "Sucht und Familie". Ich möchte Ihnen aus dem Text zitieren: "Aber wie sollen Angehörige reagieren? ... und sicher geht es Suchtkranken nicht darum, die Familie mit ihrer Sucht zu verletzen. Deshalb sollten Angehörige sich zunächst ausführlich über Suchterkrankungen, deren Ursachen und Auswirkungen informieren... Umso wichtiger ist es, die Beziehung jetzt nicht zusätzlich durch Vorwürfe, persönliche Kritik, Nörgeleien oder Beschimpfungen zu belasten... Ruhe und Verständnis mögen zwar schwierig sein, sind jedoch wesentlich, wenn Angehörige die Suchtprobleme thematisieren wollen... Eine solche belastete Atmosphäre erzeugt Stress und den werden die Suchtkranken wahrscheinlich in einer Flucht in die Sucht zu kompensieren versuchen... Wenn Suchtkranke sich öffnen und über ihre Erkrankung sprechen, sollten Angehörige sie nicht unterbrechen... Wer Suchtkranken helfen möchte, sollte stets konsequent sein, Grenzen ziehen und Vorbild sein."
Meinen die KollegInnen in L. ernsthaft, dass Angehörige, die ständig Abwertungen, Beschimpfungen, Beschuldigungen und Beschämungen ausgesetzt sind, Ruhe und Verständnis aufbringen sollen? Sollen sich Angehörige, wenn der Suchtkranke mal wieder die Haushaltskasse geplündert hat und kein Geld mehr für Essen da ist, zunächst einmal ausführlich über Suchterkrankungen und deren Auswirkungen informieren? Sollen Angehörige, nachdem sie psychisch oder physisch misshandelt wurden, nicht verletzt sein und den Suchtkranken nicht unterbrechen, wenn er sich öffnet und über seine Krankheit spricht? Und sollen Angehörige, die tagtäglich die Folgen der Sucht ausbaden und mit der belasteten Situation überfordert sind, den Stress verbergen, damit der Suchtkranke sich nicht in den Konsum flüchtet?
Die Broschüre löst bei mir ungläubige Sprachlosigkeit aus. Doch mir ist dazu eine Aussage einer Klientin eingefallen. Sie kommt aus einer Suchtfamilie, ist selber Sozialarbeiterin und hat ihre vielfältige Erfahrungen mit Beratungsstellen, Krisendiensten und Seelsorge wie folgt zusammengefasst: "Eigentlich suche ich jemanden, der mir einfach zuhört und Verständnis hat. Und dann geben mir die Kollegen oft dort Ratschläge, die ich nicht brauchen kann. An den Ratschlägen merke ich, dass sie nicht wirklich zuhören und keine Ahnung haben. Es erinnert mich an meine Familie. Die sagen mir auch immer, was ich denken, fühlen und tun soll. Aber keiner hört mir zu, keiner sieht mich."
Impuls: Es wäre eine Möglichkeit, gemeinsam mit geeigneten Kooperationspartnern eine angehörigenzentrierte Broschüre herauszugeben.
2022-02 | Drogenpolitik
Am 11.02.2022, zwei Tage vor Beginn der Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien, hat sich der neue Drogenbeauftrage der Bundesregierung, Burkhard Blienert, in einem Interview mit der WELT zu Wort gemeldet. Wohlgemerkt äußert er sich nicht zur Aktionswoche, vielmehr fordert er eine Neuausrichtung der Drogenpolitik. In seinen Antworten kommt die Angehörigenproblematik nicht vor. Nachstehend zwei Zitate zu den zentralen Aussagen des Interviews: "Was wir brauchen, ist einen neuen gesellschaftlichen Umgang mit Drogenkonsum insgesamt. Wir müssen die Menschen unterstützen und ihnen helfen. Das steht für mich an allererster Stelle." und "Im Mittelpunkt sollte die Gesundheit stehen, nicht das Strafrecht. Drogenkonsumierende sollten nicht stigmatisiert werden, sondern Gehör und Akzeptanz finden." (» Interview)
Ich verstehe schon, dass Blienert seine Worte ermutigend und entstigmatisierend meint. Eine Neuausrichtung der Drogenpolitik kann ich nicht erkennen. Er setzt nur fort, was die Vorgängerinnen schon verfolgt haben. Allerdings ist die Wortwahl aus Angehörigenperspektive mehr als unglücklich zu bewerten. Aus Sicht der Angehörigen wird Folgendes nahegelegt: Drogenabhängige, die gewohnheitsmäßig täuschen, manipulieren, abwerten, beschuldigen und beschämen sowie nicht selten auch betrügen, klauen, misshandeln und missbrauchen, sollen gesellschaftlich "Gehör und Akzeptanz finden". Meint Blienert, dass wir das unsoziale und deviante Tun von Suchtkranken akzeptieren sollen? Selbstverständlich meint er dies nicht, aber er sagt es. Ein klassischer Freudscher Versprecher? Mitnichten! Das Gesagte spiegelt die längst überholte gesellschaftliche Schieflage wieder, dass die - allzu häufig suchtkranken - Täter alle Aufmerksamkeit und Hilfe erhalten und die Opfer - im Fall von Sucht v.a. Kinder, Partnerinnen und Eltern - vergessen werden.
Die offizielle Website des Drogenbeauftragten, wie ich recherchiert habe, spiegelt diese Missachtung der Angehörigen ebenfalls wieder. Auch diesbezüglich setzt Blienert die Tradition des Hauses fort. Aus Angehörigensicht und vor dem Hintergrund der aktuell stattfindenden COA-Aktionswoche hat der Drogenbeauftragte einen bedauerlichen Fehlstart ins neue Amt hingelegt. Schade auch, die Chance auf einen echten Neuanfang ist verpasst!
2022-02 | COA-Aktionswoche
Unter dem Motto "Wir brauchen Verlässlichkeit!" findet vom 13. bis 19. Februar 2022 die 13. bundesweite Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien statt. Organisiert wird die Aktionswoche von den beiden Vereinen NACOA Deutschland und Such(t)- und Wendepunkt e.V. In zahlreichen Veranstaltungen in ganz Deutschland werden wieder Einrichtungen, die mit betroffenen Kindern und Jugendlichen arbeiten, auf die leidvolle Situation der Betroffenen und die mangelhafte Versorgung durch die Hilfesysteme in Deutschland hinweisen - gerade auch in Zeiten der Pandemie.
NACOA lädt unter anderem zum Auftakt der Aktionswoche für den 11. Februar von 10:00 bis 11:30 Uhr zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion mit gesundheits- und drogenpolitischen ExpertInnen von SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ein. Die Veranstaltung findet kostenfrei online per ZOOM statt (» Veranstaltung). Die Interessenvertretung für Kinder aus suchtbelasteten Familien hebt gesundheitspolitisch hervor: "Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien kennen leider in ihrem Alltag die mangelhafte Verlässlichkeit von Verantwortlichen. Die Einhaltung von Verlässlichkeit ist ein hohes Gebot und deshalb sind sicher finanzierte Hilfs- und Beratungsangebote für diese hochverletzliche Gruppe so wichtig."
Obendrein: