Immer sachlich und vernünftig zu sein, ist ein Gefühlskorsett.

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Verseform

Seelische Verletzungen sind schwer sprachlich zu fassen. Kreative, künstlerische Ausdrucksformen helfen, einen Zugang zum Schmerz zu finden sowie das Unsagbare besprechbar zu machen. Nicht wenige suchtbetroffene Angehörige schreiben oder malen, um ihre leidvollen Erfahrungen zu verarbeiten. Dies ist eine große Ressource und ich bin oft beeindruckt von den kleinen Kostbarkeiten, welche Angehörige mir zusenden oder KlientInnen mit in die Therapie bringen. Nicht selten bin ich der erste Rezipient und bleibe auch der einzige. Das ist schade. Schon länger beschäftigte mich der Gedanke, ob und wie man diesen Werken eine Bühne bieten kann.

Die nachstehend veröffentlichten Verse verfolgen dreierlei Zweck:

Das Lied: "Die im Dunkeln sieht man nicht", ist übrigens als einzige Ausnahme von dem dichtenden und singenden Suchttherapeuten Bodo Rulf. Ich danke den DichterInnen herzlich für ihre Beiträge. Selbstverständlich haben sie ihr Einverständnis erklärt. Ich bitte darum, die Urheberrechte bei der eventuellen Weiterverwendung zu wahren.

Und nun Vorhang auf!

Stimme erstickt
in meiner Kehle
Worte taumeln
ziellos in meinem Kopf

Fühle mit euch
spüre die Last
auf euren Schultern
zentnerschwer

Leide mit euch
weine eure Tränen
tausendfach
in einsamer Nacht

Spüre mich nicht
das vergessene Kind
allein gelassen
all die Jahre.

(Erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, 2010)

Es war der Moment
in dem ich aufhörte
zu atmen

als das Blut
in meinen Adern
gefror

als Zeit
ein Vakuum wurde
das mit sich riss

Bilder
Gerüche
Empfindungen

mein Körper
ein Panzer

ein Schutz
vor mir selbst

umgeben
von beißendem Schmerz

in mir
die Tränen
eines Kindes

ein lautloser Schrei
nach Leben.

(Erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, 2021)

Ich könnte
tiefe Wunden schlagen

in dein
süchtiges Fleisch

es vergießen
dein vergiftetes Blut

zerstreuen
deine tote Asche
in alle Winde

mir meine Seele
aus dem Körper
schreien

ihn verdammen
meinen stillen Tod.

(Erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, 2021)

Schon beim
ersten Wort,
das du sagst,
merke ich,
es ist wieder
soweit.

Gleich
werden wir
diskutieren.
Mein Herz friert.
Denn ich
kenne das
Ende.

(Partnerin eines Alkoholikers, 2022)

Du sagst, du musst mal abschalten,
du sagst, du musst dich erholen,
du sagst, das kann doch nicht so schlimm sein,
du sagst, ich habe kein Verständnis für dich,
du sagst, andere dürfen das doch auch.

Frag doch mal, wie es mir dabei geht!

(Partnerin eines Alkoholikers, 2022)

in der therapie
sah ich
dorothee

vier jahre alt
vor lauter
lebensfreude
strotzend

mich
sah ich
gleichaltrig

als
ich die tür
auf – machte
stand ich
da

ganz leise
ohne
mich zu rühren
mit großen
traurigen
bettelnden
augen

im affekt
habe ich mir
die tür
vor der nase
zugeschlagen

mittlerweile
kann ich mich
manchmal
ein – lassen
dann
werden die augen
ganz strahlend
und ich
ganz lebendig

im „wirklichen leben“
- erzählte meine mutter -
habe ich
als kleines kind
manchmal
in der ecke
hinter der tür
gestanden
und gesagt:
„keiner liebt mich“

sie erzählt das
wie eine anekdote
es macht sie
nicht betroffen
sie
findet das wohl
absurd

das
ist es
ja wohl auch

(Heike, erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, 1993)

trauer und schmerz
und bedürftigkeit
immer mehr
und immer noch mehr
zu viel
für mich allein

gratwanderung
zwischen
selbst – mitleiden
und der not,
zu fühlen,
wofür als kind
kein raum war

damit ich
dahinter komme

wie weit das ist

UNTRÖSTLICH

(Heike, erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, 1993)

Ich bin der Vater, der sein Wort nicht hält,
die Mutter, die mit dem Messer droht.
Ich bin der Vater, der im Flur umfällt.
Ich bin die Mutter, die schläft, wie tot.
Ich bin der Vater, der seinen Gürtel auszieht.
Ich bin die Mutter, die nichts unternimmt.
Ich bin das Kind, das vor´m Vater kniet.
Ich bin das Kind - das ewige Kind.

Wir sind die Eltern, werden nicht respektiert.
Wir sind die Eltern, die gefürchtet sind.
Wir sind die Großmutter, schweigen pikiert.
Wir sind die Hand, unsere Wut ist blind.
Wir sind das Glas, das schellend zerbricht.
Wir sind das Gör, das sich nicht benimmt!
Liebe und Wärme verdienen wir nicht.
Wir sind das Kind - das ewige Kind.

Wir, so viele, sind die Kollegen.
Wir schauen weg - tun, was zu tun ist.
Wir halten den Mund, nur nicht aufregen!
Wer weiß, wann Du selbst mal in Nöten bist.
Wir sind die Frauen, die retten könn´.
“Morgen ist Schluss damit; morgen bestimmt!”
Wir sind die Kumpel, die sich auch mal was gönn´.
Wir sind das Kind - das ewige Kind

(N. N.)

ich möchte
wirklich kind sein
und mich nicht
bloß so fühlen

ich möchte mich
mit dem größten
recht
und der ganzen
selbst – verständlichkeit
dieser welt
in offene arme flüchten
auf schöße klettern
mich ganz klein machen
meinen kopf
an einer schulter vergraben

ich möchte umarmt
und getröstet werden
meine tränen
abgewischt kriegen
ganz sanft
und nichts er – klären
müssen

ich möchte gedrückt
und ganz sachte
gewiegt werden
ein leises lied
vorgesungen bekommen
und koseworte
ins’s ohr geflüstert

ich möchte um mich
einen warmen körper
einen anderen herzschlag
als bloß meinen
und einen anderen atem
über meinen nacken streicheln
spüren

ich möchte mich
auf – gehoben
und gehalten fühlen
und merken
dass ich nicht
in’s bodenlose
fallen kann

ich möchte
dass mir jemand sagt
„das geht vorbei“
und dass ich
so viel ver - trauen habe
dass ich das
glauben kann

ich fühle mich
wie ein kleines kind
diesem schmerz
und dieser trauer
ausgeliefert
auf immer und ewig

deshalb
muss ich das fühlen
so ganz hand - fest
dass ich nicht
so allein bin
mit meine kummer
wie ich mich fühle

jetzt
wo das alles
so nicht ist

(Heilke, erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, 1993)

Wer denkt an die Kinder,
die an den Festtagen nur stören –
den Vater beim Trinken, die Mutter beim Harmoniespielen?

Wer denkt an die Kinder,
die fortwährend beschämt werden,
wenn Eltern sich scham-los auf Festen verhalten?

Wer denkt an die Kinder,
die in Todesangst beten,
Mutti möge die Familie heile nach Hause bringen?

Wer denkt an die Kinder,
die trotzdem noch an Papa denken,
dass er wohl hoffentlich nicht stürzt im Suff?

Prostes Fest!

(Erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, 2022)

Sind so viele Kinder // die fast niemand sieht // Zuhause wird gesoffen // viel Dunkles dort geschieht -

Gebrochene Versprechen // das ist komplett normal // stets tun als wenn nichts wäre // das ist die reine Qual -

Da ist der kleine Thomas // der durch die Kneipen läuft // er sucht hier seine Mutter // die irgendwo sitzt und säuft -

Oder dort die kleine Karin // ihr Vater sie oft verdrischt // sie weiß nicht was sie falsch macht // ihre Mutter hilft ihr nicht -

Und drüben die kleine Birgit // grad zwölf und in großer Not // ihr Vater zwingt sie zuzuschauen // wenn er sich einen runterholt -

Sodann der kleine Bojan // der seine Mama schützen will // sein Vater prügelt beide // bis sie am Boden liegen still -

Ich erzähle hier nur wenig // es gibt noch sehr viel mehr // doch eines ist zu sagen // diese Kinder tragen schwer -

Fast alle diese Kinder // sie suchen die Schuld bei sich // weil ich nicht richtig lieb bin // kommt all das über mich -

Wenn sie Zuhause raus sind // glauben sie nun seis vorbei // doch oft ist das ein Trugschluss // sie sind nicht wirklich frei -

Sie haben nie erfahren // ich bin gut so wie ich bin // und du wie geht’s denn dir hier // so ganz tief in dir drin?

Ja – zu sich selber sagen // so einfach und ganz schlicht // wenn du dir das nicht wert bist // dann hilft dir alles nicht -

Komm lass es uns hier üben // ich bin gut so wie ich bin // egal was andre sagen // ich bin gut so wie ich bin -

Und wenn ich dabei weine // dann ist auch das sehr gut // denn ich bin wirklich, wirklich gut so // Ich bin gut so wie ich bin!

(Bodo Rulf, 2021)