In der deutschen Suchthilfe hat sich in den 90ern die Sichtweise von Co-Abhängigkeit in Anlehnung an das Konstrukt der Enabler durchgesetzt. Dieses stammt ursprünglich von der amerikanischen Autorin Sharon Wegscheider-Cruse, die Abhängigkeit als eine Familienstörung verstand, die sich durch ein verstricktes Rollengefüge auszeichnet. Das Enabler-Konstrukt wurde in der deutschen Adaption aus dem systemischen Gesamtkonzept herausgenommen und - wie es üblich ist, wenn ein Detail aus dem Gesamt herausgelöst wird - tendenziös verstanden. Demnach sollen Co-Abhängige durch ihr Tun und Unterlassen den Suchtkonsum auslösen, fördern und aufrechterhalten. Die deutsche Adaption ist meines Erachtens bedenklich, unzureichend und falsch.
Bedenklich ist die Definition, weil sie vorwurfsvoll ist. Angehörige wünschen zweifelsohne, dass der Süchtige aufhört, seiner Sucht nachzugehen, und sie tun gewöhnlich alles dafür. Häufig haben sie in ihren Bemühungen um den Suchtkranken Erfolg, was der Fachmensch nicht erfährt, weil diese Fälle nicht in die Beratung oder Therapie kommen. Durch den Vorwurf, werden die Angehörigen für die Sucht des Suchtkranken verantwortlich gemacht oder sogar als "heimliche Unterstützer", "Mittäter" oder "Komplizen" kriminalisiert. Als Folge dieser vorwurfsvollen Sichtweise begegnet die Selbst- und Suchthilfe bis heute vor allem den Eltern und Partnern, aber auch den erwachsenen Kindern von Suchtkranken mit Misstrauen, Ablehnung sowie Schuldzuweisungen.
Unzureichend ist die Definition darüber hinaus, weil Co-Abhängigkeit tatsächlich eine komplexe Problematik ist, die in Wechselwirkung mit Sucht steht. Durch die Definition werden die Angehörigen ausschließlich als Effekt auf die Suchtkranken funktionalisiert und marginalisiert. Die Angehörigen kommen in der Definition als Person nicht vor. Ihre vielfältigen Leiden, Belastungen, Beeinträchtigungen und Traumata bleiben außen vor. So werden heute Angehörige häufig als Co-Therapeuten in die Behandlung einbezogen, ausschließlich um die Therapieeffekte für die Suchtkranken zu verbessern. Falls die Angehörigen psychisch gesund sind, kann dieses Vorgehen durchaus von Vorteil sein. Doch viele Angehörige sind selbst in Not, entwickeln eigene psychosoziale Probleme oder Störungen und benötigen ebenfalls Beratung und Therapie. In diesem Fall ist ihre co-therapeutische Nutzung kontraindiziert. Im Fall von erwachsenen Kindern mit Traumafolgestörungen ist es meines Erachtens als emotionaler Missbrauch und Retraumatisierung zu werten.
Doch das Hauptgegenargument lautet: Die Definition ist falsch. In meiner langjährigen Arbeit mit Angehörigen bin ich nie auf Angehörige gestoßen, die Sucht ausgelöst, gefördert oder aufrechterhalten haben. Ganz im Gegenteil! Die meisten Angehörigen kümmern sich liebevoll und kompetent. Schon Wegscheider-Cruse hat sich in ihrem bahnbrechenden Buch "Another Chance" eindeutig geäußert, übrigens in dem Kapitel über Enabler (1989, S. 90): "Why we may asked, would anyone knowingly choose to help a loved one destroy himself with chemicals? The answer is, of course, that they don´t." Die Autorin beschreibt, dass sich Angehörige allenfalls suchtbegünstigend verhalten: "The people around him, especially those who love him or whose well-being ist intimitely bound with his, step in to protect him from those consequences." (S. 89).
Es gibt indes eine Ausnahme, nämlich falls die Angehörigen selber Suchtprobleme haben. Sucht zu fördern, ist nicht als co-abhängig, es ist als süchtig zu werten. Süchtige verführen andere zum übermäßigen Suchtmittelkonsum bzw. sind ihnen Modell in dem zerstörerischen Verhalten. Sucht fördert Sucht. Warum blendet die Suchthilfe das Offensichtliche aus? Durch die Schuldprojektion auf die Angehörigen kann der Irrglaube, dass die Suchtkranken "arme, kranke Opfer" sind, denen man in einer "ungerechten und feindseligen Welt" beistehen muss, hochgehalten werden. Dies gibt der Suchthilfe in ihrer heutigen Form eine Daseinsberechtigung. Dieser institutionelle Abwehrmechanismus ist als co-abhängig einzuordnen (» Die co-abhängige Institution).