2025-06 | Erich Fromm
Die Kunst des Liebens
Fromm, E. (2023). Die Kunst des Liebens (5. Aufl.). Berlin: Ullstein.
Vor über 35 Jahren habe ich die philosophischen Werke des Sozialpsychologen Erich Fromm entdeckt: Haben oder sein und Die Kunst des Liebens. Damals war ich tief beeindruckt von der Klarheit und Einfachheit seiner Sprache, mit der er komplexe, gesellschaftskritische Anschauungen zum Leben, zum Menschsein und zur Mitmenschlichkeit vertritt. Fromms Lehren haben mich motiviert, Psychologie zu studieren.
Derzeit lese ich wieder Die Kunst des Liebens, auch weil ich ein Essay daraus für Co-ABHAENGIG.de entwerfen und anhand der Philosophie von Fromm den Unterschied zwischen Abhängigkeit und Liebe herausarbeiten wollte. Als ich das Kapitel Selbstliebe gelesen habe (S. 97 - 106), habe ich meinen Plan revidiert. In dem Kapitel beschreibt Fromm die süchtige und co-abhängige Deformation eindeutig, auch wenn er andere Begrifflichkeiten nutzt. Und er schildert die Alternative dazu, mittels der Selbstliebe die echte Liebe zu entdecken.
Zunächst stellt er einen auch heute noch weitverbreiteten, irrigen Glaubenssatz vor, dem auch co-abhängige Personen häufig anhängen:
Man nimmt an, in dem Maß, wie man sich selbst liebe, liebe man andere nicht, und Selbstliebe sei deshalb das gleiche wie Selbstsucht. [...] Liebe und Selbstliebe schließen sich dabei gegenseitig aus: Je mehr von der einen, um so weniger ist von der anderen vorhanden. Ist aber die Selbstliebe etwas Schlechtes, so folgt daraus, daß Selbstlosigkeit eine Tugend ist.
Fromm kommt in seiner Analyse zu einem eindeutigen Ergebnis:
Bevor wir den psychologischen Aspekt der Selbstsucht und Selbstliebe nun diskutieren, ist zu unterstreichen, daß die Auffassung, die Liebe zu anderen Menschen und die Liebe zu sich selbst schlössen sich gegenseitig aus, ein logischer Trugschluss ist. Wenn es eine Tugend ist, meinen Nächsten als ein menschliches Wesen zu lieben, dann muß es doch auch eine Tugend - und kein Laster - sein, wenn ich mich selbst liebe, da ja auch ich ein menschliches Wesen bin. Es gibt keinen Begriff von Menschen, in den ich nicht eingeschlossen bin. [...] Liebe zu meinem Selbst ist unzertrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden.
Echte Liebe ist Ausdruck inneren Produktivseins und impliziert Fürsorge, Achtung, Verantwortungsgefühl und »Erkenntnis«. Sie ist kein »Affekt« in dem Sinn, daß ein anderer auf uns einwirkt, sondern sie ist ein tätiges Bestreben, das Wachstum und das Glück der geliebten Person zu fördern. Dieses Streben aber wurzelt in unserer Liebesfähigkeit. [...] Die Bejahung des eigenen Lebens, des eigenen Glücks und Wachstums und der eigenen Freiheit ist in der Liebesfähigkeit eines jeden verwurzelt.
Im Folgenden grenzt Fromm die Selbstliebe von der Selbstsucht und der Selbstlosigkeit ab:
Der Selbstsüchtige interessiert sich nur für sich selbst, er will alles für sich, er hat keine Freude am Geben, sondern nur am Nehmen. Die Außenwelt interessiert ihn nur insofern, als er etwas für sich herausholen kann. Die Bedürfnisse anderer interessieren ihn nicht, und er hat keine Achtung vor ihrer Würde und Integrität. Er kann nur sich selbst sehen; einen jeden und alles beurteilt er nur nach dem Nutzen, den er davon hat. Er ist grundsätzlich unfähig zu lieben.
Selbstsucht und Selbstliebe sind keineswegs identisch, sondern in Wirklichkeit Gegensätze. Der Selbstsüchtige liebt sich selbst nicht zu sehr, sondern zuwenig; tatsächlich hasst er sich. [...] Er kann deshalb nur unglücklich und eifrig bedacht sein, dem Leben die Befriedigung gewaltsam zu entreißen, die er sich selbst verbaut hat. [...] Es stimmt zwar, daß selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben, aber sie sind auch unfähig, sich selbst zu lieben.
Diese Theorie des Wesens der Selbstsucht wird durch psychoanalytische Erfahrungen mit der neurotischen »Selbstlosigkeit« bestätigt, die man bei nicht wenigen Menschen beobachten kann; diese leiden gewöhnlich an Symptomen, die damit zusammenhängen, etwa an Depressionen, Müdigkeit, an einer Unfähigkeit zu arbeiten, am Scheitern von Liebesbeziehungen usw. [..] Der solcherart Selbstlose »will nicht für sich selbst«; er »lebt nur für andere«; er ist stolz darauf, daß er sich selbst nicht wichtig nimmt. Er wundert sich darüber, daß er sich trotz seiner Selbstlosigkeit unglücklich fühlt und daß seine Beziehungen zu denen, die ihm am nächsten stehen, unbefriedigend sind. [...]
der Betreffende ist nämlich überhaupt in seiner Fähigkeit, zu lieben oder sich zu freuen, gelähmt; daß er voller Feindschaft gegen das Leben ist und daß sich hinter der Fassade seiner Selbstlosigkeit eine subtile, aber deshalb nicht weniger intensive Ichbezogenheit verbirgt.
Anhand des Beispiels der selbstlosen Mutter führt Fromm aus, welche Auswirkungen Selbstlosigkeit auf andere hat:
Sie [die Kinder] sind ängstlich, nervös und haben ständig Angst, die Mutter könnte mit ihnen nicht zufrieden sein und sie könnten ihre Erwartungen enttäuschen. [...] Alles in allem wirkt eine selbstlose Mutter auf ihre Kinder kaum anders als eine selbstsüchtige, ja, die Wirkung ist häufig noch schlimmer, weil ihre Selbstlosigkeit die Kinder daran hindert, an ihr Kritik zu üben. Sie fühlen sich verpflichtet, sie nicht zu enttäuschen, so wird ihnen unter der Maske der Tugend eine Abscheu vor dem Leben beigebracht.
Und am Ende fasst er seine Überlegungen zur Selbstliebe durch ein Zitat von Meister Eckhart zusammen:
»Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. [...] So steht es recht mit einem solchen Menschen, der sich selbst liebhat und alle Menschen so lieb wie sich selbst, und mit dem ist es gar recht bestellt.«
Dem habe ich nichts hinzuzufügen, so offensichtlich ist der Zusammenhang zu dem Themenkomplex Abhängigkeit, und wünsche Ihnen in dem Sinne der Selbstliebe eine gute Sommerzeit.